Aktuelles zu Digital Performing Arts
Interview mit Kevin Barz, seit der Spielzeit 2024/25 Leiter der Sparte „Digitaltheater“ am Badischen Staatstheater Karlsruhe.
Kevin Barz, 1989 in Oberhausen geboren, ist Schauspiel- und Opernregisseur. Er studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen und Regie an der Otto Falckenberg Schule in München. Mit seiner Abschlussarbeit Saal 600, einem dokumentarischen Musiktheaterprojekt über die Nürnberger Prozesse, belegte er beim Körber Studio für Junge Regie am Thalia Theater Hamburg den zweiten Platz. Im Anschluss an sein Studium inszenierte er u. a. an den Münchner Kammerspielen und der Bayerischen Staatsoper, am Deutschen Theater Göttingen sowie am Oldenburgischen Staatstheater. Von der Spielzeit 2019/20 bis zur Spielzeit 2021/22 war er Hausregisseur am Mainfranken Theater Würzburg. In der Spielzeit 2022/23 war Kevin Barz Künstlerischer Leiter des „Technical Ballroom“ am Oldenburgischen Staatstheater, einem spartenübergreifenden Projekt zum Thema Digitalität. Barz entwickelte auch hier seine Stücke selbst. Seine Arbeiten verfolgen den Anspruch, sich formell wie inhaltlich mit den Möglichkeiten und Fragestellungen der Digitalisierung auseinanderzusetzen, ohne den Kernmoment des Theaters aus den Augen zu verlieren: die reelle Begegnung zwischen Spieler*innen und Zuschauer*innen in einem gemeinsamen Raum. Barz’ Arbeit basiert überwiegend auf eigenen Konzepten. Für die Opéra national de Lorraine in Nancy entwickelte er mit Êtes-vous amoureux? eine digitale Oper im Stadtraum. Am Oldenburgischen Staatstheater wurde die Demokratische Sinfonie uraufgeführt, ein dokumentarischer Schauspiel- und Musiktheaterabend über die vergangene Legislaturperiode im Deutschen Bundestag. Auf Basis ausgewählter Bundestagsdebatten übersetzte der Komponist Paul Brody Sprachmelodien und Emotionen der Abgeordneten in Musik. Mit Brody, der auch die Musik für Saal 600 und Êtes-vous amoureux? komponierte, verbindet Barz eine enge Arbeitsbeziehung.
Seit der Spielzeit 2024/25 ist Barz Leiter Digitaltheater am Badischen Staatstheater Karlsruhe.
#beginn
Kannst Du uns einen Überblick über Deine Pläne als künstlerischer Leiter der digitalen Sparte am Badischen Staatstheater Karlsruhe geben und wie Du zum digitalen Theater gekommen bist?
Mich interessiert die Verbindung von Tradition und Fortschritt – das Tradierte wertzuschätzen und gleichzeitig das Neue zu integrieren. Und ich glaube auch, dass genau das der Grundmoment des Theaters ist: sich stetig weiterzuentwickeln, ohne dabei seine Vergangenheit zu vergessen. Dass daraus äußerst kreative Spannungsmomente entstehen können, habe ich schon in meiner Ausbildung feststellen können. Das Studium der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen und danach das Regie-Studium an der Otto Falckenberg Schule in München bildeten für mich zwei total gegensätzliche Pole von Theaterverständnis ab. Und mir macht es seitdem großen Spaß, mich genau dazwischen zu bewegen. Und diesen Spagat möchte ich auch mit dem Digitaltheater in Karlsruhe wagen. Ich möchte hier die ästhetischen und inhaltlichen Aspekte der Digitalität auf unseren Bühnen greifbar machen, eingebettet in theatrale Narrative und stets widergespiegelt am Menschen auf der Bühne. Und das unter dem Einbezug aller Gattungen am Haus – denn Digitalität ist untrennbar vom Gedanken des Netzwerks. Und das will ich aufspannen: quer durch das Haus und hinein in die Stadt. Dass genau das die große Chance der Digitalität ist, habe ich als Erkenntnis aus der Coronapandemie mitgenommen. Wir sollten unser lebendiges und multisensorisches Medium Theater nicht im virtuellen Raum auflösen, sondern vielmehr der ungreifbaren Digitalität eine Form und Erfahrbarkeit auf der Bühne geben. Also kurzum, die Digitalität auf die Bühne übersetzen. Das war inhaltlich auch mein Startschuss für das Digitaltheater am Oldenburgischen Staatstheater, kurz nach der Pandemie.
#entstehung
Wie hast Du persönlich die ersten Schritte zur Implementierung des digitalen Theaters unternommen?
Theater bestehen aus unglaublich gut geölten Zahnrädern, die präzise und kraftvoll laufen. Im laufenden Betrieb ein neues Zahnrad wie „Digitalität“ einzubauen, erzeugt erst mal ein ziemliches Knirschen im Getriebe. Daher braucht es die richtigen Menschen, die beide Sprachen sprechen und verstehen: die des laufenden Theaterbetriebes und die der Digitalität. Man muss also erst mal die richtigen Menschen finden, die so ein Zahnrad einbauen können, ohne dass es einen Getriebeschaden gibt. Mein erster Schritt war es also, ein Team aufzustellen, das mit brennender Leidenschaft Vertrauen schaffen und Expertise leisten kann.
Gab es eine besondere Herangehensweise oder Strategie?
So implementiert die Digitalität in unseren Alltag mittlerweile auch ist, sie erzeugt trotzdem immer noch oft Angst und Skepsis. Daher ist es wichtig, früh auf diese Sorgen einzugehen. Das Theater ist bisher immer noch ein sehr analoger Ort – sowohl auf der Bühne als auch hinter der Bühne. Der Einsatz neuer Technologien wie zum Beispiel KI wirft Zeitpläne um, kostet Geld, und nur wenige Menschen in den Betrieben können bisher damit versiert umgehen. Stetige Kommunikation und Wissenstransfer sind daher unerlässlich. Und, das ist meine ganz persönliche Strategie: Es braucht überzeugende künstlerische Konzepte. Ein Digitaltheaterabend sollte aus sich selbst begründen, warum er notwendig und relevant ist. Das macht den Kolleginnen und Kollegen im Haus sowie dem Publikum am meisten Lust und schafft Vertrauen und Neugierde.
Du hast durch Deine vielen Engagements sicher unterschiedliche Erfahrungen an den Theaterhäusern gesammelt. Wie erlebst Du die Integration des digitalen Theaters in einen klassischen Theaterbetrieb?
Das Interesse am digitalen Theater ist allerorten groß, wird jedoch selten über einzelne Stücke oder Inszenierungsansätze verfolgt. Oft einfach nur, weil das Know-how an den Häusern nicht vorhanden ist und die Zusammenarbeit mit dem IT-Bereich in der freien Wirtschaft für Theater finanziell gar nicht leistbar ist. Ein anderer Faktor ist natürlich auch die technische Ausstattung. Große technische Investitionen gehen meist in sehr spezifizierte Anlagen aus der Veranstaltungstechnik. Die laufen sehr stabil, können ihre Sache gut – sind aber kaum vernetzbar und lassen nicht die Möglichkeit zu experimentieren. So wie eine Lichtabteilung ihr Lichtpult, braucht ein ernst gemeintes Digitaltheater auch seinen eigenen KI-Server.
Welche Anpassungen sind Deiner Meinung nach notwendig, auch im Hinblick auf personelle Situationen an den Theatern?
Das fängt ganz klar beim Menschen an. Neben unseren altbekannten technischen Gewerken wie Licht, Ton und Video wird es in Zukunft Medientechniker*innen geben, die das Know-how eines klassischen Veranstaltungstechnikers / einer klassischen Veranstaltungstechnikerin mit den Aspekten Programmierung, Netzwerk, 3D und natürlich KI verbinden. Und dieser neue Berufsstand wird auch viel deutlicher in die künstlerischen Prozesse einbezogen werden, weil im Digitaltheater so oft die Ideen aus den Möglichkeiten entstehen. Dafür braucht es künstlerisch-technische Expert*innen.
Welche Resonanz hast Du bisher von den Kolleginnen und Kollegen der technischen Gewerke, den Künstler*innen oder auch dem Publikum erhalten?
Die Aufhebung der Trennung zwischen Kunst und Technik wird von den Kolleginnen und Kollegen eigentlich immer als Inspiration und Motivation aufgenommen. Die Zusammenarbeit zwischen Regie und Technik als Team auf Augenhöhe macht Problemlösungen leichter, weil es ein gegenseitiges Verständnis gibt. Viele Konflikte auf Proben zwischen Regie und Gewerken entstehen, weil die Regie eine künstlerische Verantwortung für technische Prozesse auf der Bühne trägt, aber viel zu wenig Grundwissen dafür mitbringt. Technisches Wissen ist in meinen Augen daher auch für alle Regisseur*innen absolutes Handwerkszeug. Vom Publikum erfahren wir äußerst positiven Zuspruch, weil aus dieser Arbeit Theaterabende entstehen, die Technologie nicht zum Selbstzweck, sondern niedrigschwellig und erfahrbar präsentieren. Eingebettet in das, was wir am Theater lieben. Und das nicht nur auf eine bestimmte junge Zielgruppe gemünzt, sondern breit aufgestellt für alle Theaterfans und die, die es noch werden wollen.
#herausforderungen
Welche technischen Herausforderungen hast Du bei der Umsetzung von digitalem Theater erlebt, gerade auch hinsichtlich personeller Fragestellungen, und wie wurden sie gelöst?
Digitaltheater braucht Zeit. Die Technologien sind neu, das Verhalten von KI ist oft noch sehr schwer vorhersehbar und für jedes neue Projekt muss Wissen erst generiert werden. Im Gegensatz zu einem Bühnenbildaufbau, den man mit zwei oder drei zusätzlichen Bühnentechniker*innen beschleunigen kann, lässt sich die Arbeit mit KI nur schwer beschleunigen. Nicht wegen fehlender Rechenleistung, sondern oft einfach, weil es neu ist. Lösungen müssen oft erfunden oder programmiert werden. Früh Prototypen zu programmieren, weit vor dem üblichen Turnus von Bauprobe, Probenstart und Technischer Einrichtung, ist da unerlässlich.
Wie gehst Du mit skeptischen Haltungen gegenüber digitalem Theater um?
Mit brennendem Enthusiasmus und einem Blick in die Geschichte: Technologien haben stets das Theater geformt. Im griechischen Theater hat das aufkommende Wissen um Mechanik mit dem „Deus ex Machina“, also dem konfliktlösenden Gott am Kran, die Urform der Dramaturgie geprägt. Das elektrische Licht und Theaterzüge haben das Illusionstheater möglich gemacht, und das Regietheater der 90er-Jahre mit Beamern und Livekamera wurde zum Abbild einer mehr und mehr medialen Welt. Warum sollte diese Entwicklung nun mit der Digitalität stoppen?
Was waren die größten organisatorischen Hürden und wie konntet Ihr sie bewältigen?
Es braucht Investitionen, um Digitaltheater möglich zu machen. Die können kleiner oder größer sein, aber man muss neue Anschaffungen machen. Mit dem Geld ist es aber nicht getan, denn allein die Planung eines solchen Systems braucht eine konkrete Voraussicht auf das, was man künstlerisch in den nächsten Jahren vorhat. Das ließ sich in unserem Fall nur durch ein enges und erfahrenes Team mit einer gemeinsamen künstlerischen Vision bewältigen.
#zukunftsperspektiven
In welche Richtung entwickelt sich Deiner Meinung nach das digitale Theater in Zukunft, gerade auch im Hinblick auf Personalfragen?
Das Digitaltheater wird mit Sicherheit in den nächsten Jahren noch einen deutlichen Schub erleben, wenn immer mehr kreative Köpfe diese neue Farbe im Farbkasten der Darstellenden Kunst für sich entdecken. Und gleichzeitig wird es damit auch immer mehr in das feste Repertoire der Bühnenkunst hineinrutschen. Ich würde mich freuen, in zehn Jahren keine Digitalsparte, sondern lieber ein Digitaltheater zu leiten, das neben Ton, Licht, Video, Kostüm, Requisite und Maske mit einem Digitalgewerk alle Gastkünstler*innen in dieser Praxis unterstützen kann – wenn sie wollen.
Welche Trends oder Innovationen sind besonders vielversprechend? Glaubst Du, dass digitales Theater eines Tages den traditionellen Formen gleichgestellt sein wird? Warum oder warum nicht?
Da tue ich mich pauschal schwer mit einer Antwort. Ein technologischer Trend oder eine Innovation ist dann interessant fürs Theater, wenn ein*e Regisseur*in ein sinniges und interessantes Konzept daraus entwickeln kann. Da halte ich Trends für ganz gefährlich, denn sie verleiten schnell zum dramaturgischen Notstopfen oder zum anbiedernden Aktualisierungsversuch für junges Publikum. Ohne ein klares und kluges Konzept ist Technologie auf der Bühne nichts wert. Daher glaube ich auch nicht, dass Digitaltheater in dreißig Jahren auf dem Treppchen neben Oper und Schauspiel stehen wird – ich glaube vielmehr, dass es zur festen Inszenierungsmöglichkeit in allen Bereichen wird, auf die Regisseur*innen mit Sinn und Verstand zurückgreifen können.
Welche neuen künstlerischen Möglichkeiten siehst Du durch die Digitalisierung, die es in klassischen Produktionen nicht gibt?
Da halte ich Partizipation für die größte Chance. Mitmachtheater ist ja zum absoluten Schimpfwort geworden und erzeugt tatsächlich bei vielen Zuschauer*innen einen regelrechten Fluchtinstinkt – bei mir im Übrigen auch. Die Digitalisierung ermöglicht nun aber, Einfluss oder Entscheidungskraft auf ein Bühnengeschehen auszuüben, ohne eine „geschützte“ Zuschauer*innenposition aufzugeben. Sei es durch Abstimmung, Livechats oder sonstige Daten, die live in dem Moment erzeugt werden. Das macht den Gedanken der Partizipation und vor allem die Symbiose von Narrativ auf der Bühne und Realität ganz neu denkbar.
#schlussworte
Gibt es spezielle Projekte oder Visionen, die Du in den nächsten Jahren umsetzen möchtest?
Ich freue mich darauf, die Ganzheitlichkeit des Theaters zu nutzen. Da geht es mir gar nicht konkret um einzelne Projekte, sondern vielmehr um das Schöpfen aus allen Gattungen in der Kombination mit innovativen Konzepten. Da kann vielleicht auch mal die Technologie die kleinste Rolle spielen, solange die Fragestellung des Abends der Digitalität und ihrem Einfluss auf uns als Menschen und Gesellschaft entstammt.
Wie siehst Du die langfristige Zukunft des Theaters – in welcher Form wird es Deiner Meinung nach weiterhin existieren?
Definitiv in realen Häusern mit echten Bühnen, die weiterhin ein politischer und musischer Treffpunkt der Menschen sind. Wir sind nicht Netflix, denn Theater kann man nicht auf der eigenen Couch erleben. Zum Glück! Aber wir Theatermacher*innen müssen neugierig und wach bleiben, um die Entwicklungen der Welt nicht zu verpassen. Unser Publikum blickt auf die Bühne und möchte sich wiedererkennen – daher müssen wir ehrlich auf die Menschen schauen und verstehen, was sie bewegt. Da ist Digitalität nicht auszuklammern.
#danke
Lieber Kevin, danke für Deine Zeit und toi, toi, toi für Deine Vorhaben am Badischen Staatstheater Karlsruhe.
(Das Interview führte Can Fischer, Leitung ZAV-Künstlervermittlung Berlin)